Die stille Epidemie der Polypharmazie. Ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Harald Walach und Prof. Dr. Stefan Hockertz, Experten für Pharmakologie und Immuntoxikologie

In diesem Gespräch für QS24 – Schweizer Gesundheitsfernsehen beleuchten zwei ausgewiesene Experten ein oft übersehenes Problem: die Übermedikamentierung als stille Epidemie. Die Redaktion von QS24, wikiSana und QS24.tv lädt Sie ein, die Zusammenhänge zu verstehen, damit Sie für sich und Ihre Angehörigen bessere Entscheidungen treffen können. QS24, wikiSana, QS24.tv, Sprechstunden sind Angebote, die Sie auf diesem Weg begleiten können.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Warum dieses Thema jetzt so wichtig ist

Die Diskussion beginnt mit einer provokativen Feststellung: Neben Herzinfarkt und Krebs rangieren Nebenwirkungen von Medikamenten in Studien als dritthäufigste Todesursache in Industrieländern. Die beiden Gäste erklären, wie Polypharmazie, mangelnde Wechselwirkungsforschung und ein medizinischer Handlungsdruck dieses Risiko produzieren. Sie fordern ein Umdenken – von kurzfristigen Interventionen hin zu einem patientenzentrierten, ganzheitlichen Ansatz.

Moderator stellt die zentrale These vor: Nebenwirkungen als Nummer drei der Todesursachen

Das Interview — Fragen & Antworten

Was bedeutet „Übermedikamentierung“ konkret und warum ist das ein Problem für Sie?

Prof. Dr. Stefan Hockertz erklärt, dass Übermedikamentierung (Polypharmazie) die gleichzeitige Einnahme zahlreicher Arzneimittel bedeutet – oft zehn bis achtzehn Wirkstoffe bei älteren Menschen. Es gehe nicht nur um die bekannten Nebenwirkungen einzelner Präparate, sondern vor allem um die unbekannten Wechselwirkungen im komplexen Zusammenspiel dieser Mittel, mit Nahrungsmitteln und mit langfristigen Einnahmezeiträumen, die kaum untersucht sind.

Prof. Hockertz über Polypharmazie bei älteren Patienten

Wie entstehen dadurch neue Gesundheitsprobleme?

Prof. Dr. Dr. Harald Walach beschreibt den Teufelskreis: Wechselwirkungen führen zu neuen Beschwerden, die wiederum mit weiteren Medikamenten behandelt werden. Beispiele reichen von Durchfall über Verstopfung bis hin zu schwerwiegenden Funktionsstörungen. Oft entstünden so vermeidbare Erkrankungen oder eine Verschlechterung der Lebensqualität.

Diskussion über Wechselwirkungen und deren Folgen

Sind die Studien, die diese Risiken aufzeigen, belastbar?

Die Experten betonen, dass viele Zahlen auf Hochrechnungen beruhen und nicht aus prospektiven Langzeitstudien stammen. Dennoch existiere eine Vielzahl systematischer Untersuchungen und Berichte, die ein klares Bild zeichnen: Zu viel Medikation verursacht erhebliche Schäden. Beide fordern mehr Langzeitforschung und eine stärkere Pharmakovigilanz.

Hinweis auf fehlende Pharmakovigilanz in den letzten Jahren

Was läuft bei der Pharmakovigilanz schief?

Prof. Hockertz erklärt, dass Meldesysteme und Nachbeobachtungen (Pharmakovigilanz) in den letzten Jahren oft vernachlässigt wurden. Ärzte melden Verdachtsfälle zu selten, weil die Meldung Aufwand bedeutet und wenig honoriert wird. Dadurch bleiben Wechselwirkungen und seltene Nebenwirkungen lange unentdeckt.

Wie viel Verantwortung trägt die Pharmaindustrie?

Prof. Walach relativiert: Die Industrie agiere innerhalb eines Systems, das Interventionen belohnt. Shareholder-Interessen und verkaufsbasierte Vergütung förderten die Produktion und Vermarktung vieler, manchmal fragwürdiger Präparate. Ein Systemwechsel hin zu erfolgsorientierter Vergütung und mehr Transparenz wäre nötig, um Fehlanreize zu beseitigen.

Gibt es klinische Beispiele, die zeigen, dass weniger manchmal mehr ist?

Die Gesprächspartner berichten von Fällen, in denen ältere Patientinnen und Patienten mit vielen Medikamenten nach einem gezielten Entlassungsplan und dem schrittweisen Absetzen unnötiger Mittel wieder an Lebensqualität gewannen. Ein einprägsames Beispiel: Eine hochbetagte Frau, der zahlreiche Präparate abgesetzt wurden, lebte länger und mit mehr Lebensqualität als zuvor.

Erfolgreiches Reduzieren von Medikamenten bei älteren Patientinnen

Praktische Empfehlungen für Sie

  • Führen Sie eine vollständige Medikamentenliste (inkl. rezeptfrei, Nahrungsergänzungen).
  • Suchen Sie einen Arzt mit pharmakologischem Verständnis oder bitten Sie um eine Medikationsüberprüfung.
  • Hinterfragen Sie die Dauer von Therapien: Viele Präparate werden für Jahre verschrieben, obwohl Daten nur für Wochen oder Monate vorliegen.
  • Prüfen Sie schrittweises „Auslassens“ einzelner Präparate unter ärztlicher Begleitung, um Wechselwirkungseffekte zu erkennen.
  • Dokumentieren Sie Nebenwirkungen und melden Sie Verdachtsfälle aktiv.

FAQ — Häufige Fragen zur Übermedikamentierung

Was ist Polypharmazie genau?

Polypharmazie bezeichnet die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente, häufig definiert ab fünf Präparaten. Sie erhöht das Risiko für Wechselwirkungen und Nebenwirkungen deutlich.

Wie erkenne ich gefährliche Wechselwirkungen?

Gefährliche Wechselwirkungen erkennen Sie durch plötzliche neue Symptome nach einer Medikamentenumstellung, verstärkte Nebenwirkungen oder unerwartete Funktionsstörungen. Eine Medikationsüberprüfung durch einen pharmakologisch geschulten Arzt hilft, Risiken zu identifizieren.

Können Nahrung und Nahrungsergänzungsmittel interagieren?

Ja. Viele Kombinationen sind unerforscht. Beispiele sind Milchprodukte bei bestimmten Antibiotika oder Cola/Alkohol mit anderen Wirkstoffen. Die Wirkung von Nahrungsmitteln bleibt oft eine Blackbox.

Wie finde ich einen geeigneten Arzt zur Überprüfung?

Suchen Sie Hausärzte oder Internisten mit Pharmakologiekenntnissen oder spezialisierte Medikationsberater. Fragen Sie gezielt nach Erfahrung mit Polypharmazie und Wechselwirkungsanalysen.

Zusammenfassung und Ausblick

Übermedikamentierung ist ein komplexes, systemisches Problem: es entsteht an der Schnittstelle von medizinischem Handlungsdruck, Ökonomie und unvollständiger Forschung. Ein Schritt zurück, mehr Zeit für Beratung, bessere Datenerhebung und eine erfolgsorientierte Vergütung könnten vieles verändern. QS24, wikiSana, QS24.tv, Sprechstunden bieten Plattformen, um diese Debatte breit zu führen.

Was QS24 Ihnen bietet

Die QS24 Mediengruppe stellt Ihnen Werkzeuge und Formate zur Verfügung, um informiert zu bleiben: der Gesundheitskompass (Erstausgabe: 140’000 Exemplare verteilt), die zweite Ausgabe erscheint im September/Oktober 2025 mit über 600.000 Exemplaren (davon rund 580.000 direkt im D-A-CH-Raum). Nutzen Sie die QS24 Academy (https://my.qs24.academy) für Kurse und Zertifikate, stöbern Sie online im Gesundheitskompass unter https://qs24.run/online und installieren Sie die QS24 APP.

Weitere Angebote: QS24 Sprechstunden – interaktive Experten-Events mit Live-Fragerunden; mehr Informationen unter: https://qs24.run/sprechstunden. Melden Sie sich für den Newsletter an: https://www.qs24.tv/newsletter/.

Abschließende Worte

Die stille Epidemie der Übermedikamentierung verlangt Ihr wachsames Handeln: Prüfen Sie Listen, suchen Sie das Gespräch mit qualifizierten Ärztinnen und Ärzten und nutzen Sie die Angebote von QS24, wikiSana, QS24.tv, Sprechstunden zur Weiterbildung. Nur gemeinsam – Brücken schlagen zwischen Schulmedizin und Ganzheitsmedizin – schützen wir die Gesundheit und Lebensqualität unserer Familien.

Mit herzlichem Dank für Ihr Interesse und in großer Zuversicht,

Alexander Glogg (im Namen des Wissenschaftsgremiums von QS24)


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